Vom Yppenplatz zum Karmelitermarkt: Studierende des Instituts für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien nahmen das Phänomen ethnischer Einzelhandel in Wien unter die Lupe. Ihre These: Durch die Gentrifizierung schwindet die Vielfalt.
Von ethnischen Minderheiten geführter Einzelhandel ist ein unübersehbares und sich veränderndes Phänomen europäischer Städte – so auch in Wien. Studierende des Instituts für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien stellten im Rahmen eines Seminars fest, dass Wiener Stadtviertel im Bereich des ethnischen Einzelhandels ihre eigenen Profile entwickelt haben und so unterschiedliche Kund*innengruppen bedienen. Einige Wiener Grätzl sind derzeit sozioökonomischen Veränderungen ausgesetzt. Die Studierenden gehen davon aus, dass die Gentrifizierung einen starken vereinheitlichenden Effekt auf die Angebote des ethnischen Einzelhandels in Wien hat.
Ethnischer Einzelhandel: wichtig für Zugehörigkeitsgefühl
Ethnischer Einzelhandel kann für Einwohner*innen mit Migrationshintergrund eine wichtige Bedeutung haben, da er das Zugehörigkeitsgefühl und die Selbstbehauptung im Stadtviertel fördert. „Da ethnischer Einzelhandel jedoch häufig in sich dynamisch entwickelnden Grätzln beheimatet ist, kommt es zu Verschiebungen im Dienstleistungsangebot, sobald die Immobilienpreise steigen und die Einzelhändler die höheren Mieten nicht mehr bezahlen können“, so Gastprofessorin Johanna Lilius. Die Gastronomie, die eher Angebote für die Mittelschicht bietet, könnte Investitionsanreize erwecken und den Gentrifizierungsprozess weiter befeuern. Gentrifizierung bedeutet in diesem Fall die Schaffung von Raum für zunehmend wohlhabendere Bevölkerungsschichten.
Dass circa 40 Prozent der Wiener Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, zeigt sich auch in ihrer Präsenz in den sich verändernden Handelslandschaften der Wiener Bezirke. Die Zahl der Unternehmer*innen mit Migrationshintergrund ist beträchtlich. Trotzdem stellten die Studenten der Uni Wien fest, dass derzeit nur wenig darüber bekannt ist, wie sich diese Unternehmen innerhalb der Stadt aufteilen und wer genau die Kund*innen dieser Unternehmen sind. „Deshalb bestand ein wissenschaftliches Interesse an einer genaueren Abbildung“, argumentieren die Studentinnen Victoria Hein, Micol Merlin und Johanna Kripp.
Unterschiede im Angebot
Um die Ähnlichkeiten und Unterschiede bezüglich der Leistungen und potenzieller Kund*innenstämme zu verstehen, verglichen Hein, Merlin und Kripp die sozioökonomischen Profile und die ethnische Einzelhandelsversorgung des Yppenplatzes in Ottakring, des Karmelitermarkts in der Leopoldstadt und des Reumannplatzes in Favoriten. Sie konnten erhebliche Unterschiede zwischen den Untersuchungsorten feststellen.
Der Yppenplatz hat sich – vom einstmals in erster Linie Versorger für Menschen aus den Balkanländern und als Ankunftsort für die türkischen Diaspora – zu einem Hotspot für Feinschmecker*innen und „innerstädtische Tourist*innen“ aus ganz Wien entwickelt. Die Studie zeigt, dass fast acht von zehn ethnischen Einzelhandelsgeschäften rund um den Yppenplatz dem Lebensmittelsektor angehören. Studentin Jovana Novakovic stellte zudem bei ehemaligen und aktuellen Bewohner*innen fest, dass das Gemeinschaftsgefühl mit den Veränderungen nachgelassen hat.
Reumannplatz, für Einwohner mit Migrationshintergrund
Der Reumannplatz erwies sich als der heterogenste unter den drei Plätzen. Ethnische Einzelhändler*innen bieten hier neben Lebensmitteln auch Mode, Schönheitsprodukte, Spiele, Interieur, Design und Bücher an. Die Studentinnen konnten dort eine Korrelation zwischen den am Reumannplatz lebenden ethnischen Mehrheiten und dem Einzelhandel herstellen. Die Mehrheit der Geschäfte gehört der türkischen Ethnie an, die nach den Serben die zweitgrößte ethnische Minderheit in dem Bezirk darstellt. Das große Angebot an verschiedenen Dienstleistungen deutet darauf hin, dass es in erster Linie den wichtigsten Ethnien des 10. Bezirks dient. Auf diese Weise unterscheidet sich der Reumannplatz vom Yppenplatz und Karmelitermarkt, die sich auf den Gastrosektor konzentrieren und nicht auf die Grundversorgung der dort lebenden Bevölkerung.
Der Karmelitermarkt ist hier besonders interessant, da seine vielfältige Lebensmittellandschaft Einzelhändler*innen aus Europa, Asien und Lateinamerika einschließt. Der Markt dürfte wahrscheinlich die mobilen Bewohner*innen ganz Wiens anziehen und kaum auf die dort lebende Bevölkerung ausgerichtet sein. Während sich so auf dem Karmelitermarkt immer wieder Neues entwickelt, existiert auch seit Jahren eine jüdisch-orthodoxe Bevölkerung, deren Läden die eigene Community mit koscheren Produkten versorgt. Das jüdische Leben knüpft hierbei an Traditionen von vor dem Zweiten Weltkrieg an, als die Leopoldstadt ein stark vom Judentum geprägter Bezirk war, so Student Lukas Galleé.
„Nashimake“ verwandelt sich ebenfalls
Klemens Jeitler erforschte die ältesten Cluster des ethnischen Einzelhandels in Wien am Naschmarkt (oder chinesisch „Nashimake“) und dessen Veränderungen. In den letzten 20 Jahren haben sich hier eine Reihe von Dienstleistungen für die chinesische Community entwickelt, darunter eine Buchhandlung, eine Zeitungsredaktion, ein Reisebüro sowie Restaurants und Lebensmittelgeschäfte. Chinesische Schriftzeichen an den Geschäften sind noch immer Ausdruck dafür, dass sich viele Mitglieder der Community mit der chinesischen Kultur und Sprache verbunden fühlen und sich dadurch besser orientieren können. Immer mehr Handelsaktivitäten verlagern sich jedoch seit einigen Jahren in die Vororte. Gleichzeitig ist eine Aufwärtsmobilität unter den chinesischen Wiener Unternehmer*innen zu erkennen. Sie suchen nach einer breiteren Kund*innenenbasis für ihre Restaurants, indem sie beispielsweise die Lebensmittelkonzepte traditioneller chinesischer Restaurants weiterentwickeln, die sie von ihren Familien geerbt haben.
Die Studierenden führten ihre Forschung im Rahmen des Seminars Ethnic retail: structures and potentials in Vienna unter der Leitung von Johanna Lilius am Institut für Geographie und Regionalforschung durch. Der Kurs fand sowohl vor Ort als auch online statt. Aufgrund des Lockdowns mussten die Student*innen Wege finden, um die Feldarbeit auch online zu realisieren. Das Google Mapping hat sich beispielsweise als gute Methode erwiesen.