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Informatik@home – „Lernen mit dem Prof daheim“ von Peter Reichl
am 8. Juni 2020
ungefähr 7 Minuten
Kategorien: Studium
Themen: Digitales Studieren , Lehre

Informatik@home – „Lernen mit dem Prof daheim“

Was bedeutet digitale Lehre überhaupt? Und wie lässt sie sich „buchstäblich über Nacht“ umsetzen? Im Beitrag bloggt Peter Reichl von der Fakultät für Informatik über seine Erfahrungen mit digitaler Lehre. Bewaffnet mit Kamera, Stativ, Whiteboard und vielen Stiften hat er rund 50 Erklärvideos für seine Studierenden angefertigt und nebenbei einen Videowettbewerb erfunden.

So etwas wie „digitale Lehre“ gibt es nicht. Dachte ich bis 11. März 2020, bis zu dem Tag, an dem es – buchstäblich über Nacht – hieß: ab sofort „digitales Studieren“. Wie jedes Semester war ich mitten drin in der Einführungsvorlesung „Technische Grundlagen der Informatik“ (TGI), wie jedes Semester hatte ich in der ersten Einheit unterstrichen, wie sehr es mir – neben der Vermittlung grundlegenden Stoffes – vor allem um das Verständnis einer Universität als Lebens- und Gesprächsraum von Lehrenden und Lernenden ging, und dass ich deshalb, wie jedes Semester, kein Streaming machen würde. Punkt. Und jetzt sitze ich von heute auf morgen zu Hause in Dornbach. In Quarantäne.

Was tun? Irgendetwas muss natürlich geschehen – einfach nur Folien verteilen und auf bessere Zeiten warten fällt als Option wohl aus. Wie aber könnte „digitales Lehren und Lernen“ ausschauen, in einer Form, die authentisch ist, interaktiv, motivierend, und jedenfalls mehr und anders als das Einspielen einer „Geistervorlesung“ ins Netz als Hörsaal-Surrogat in Reinkultur? Und was bedeutet „Lehre“ in diesem Zusammenhang überhaupt? Diese eigentümliche Übertragung von Energie vom Dozenten ins Auditorium und zurück, die manchmal magisch sein kann und dazu führt, dass Menschen gemeinsam Wissen aufnehmen und sich darüber austauschen. Und danach anders nach Hause gehen als sie gekommen sind, wie man es sonst nur von der Bühne, von Oper und Konzert kennt. Dabei immer den ganzen Menschen und die ganze Welt im Blick, „universitas“ im wahrsten Sinne des Wortes (denn das notwendige technische Wissen, um die Klausur zu bestehen, kann sich wie immer natürlich jede*r ohne großen Aufwand selber im Netz zusammensuchen). Ein Projekt kommt mir in den Sinn, das ich schon lange hege: kleine Häppchen, Video-Schnipsel über eng umgrenzte Themen zu produzieren, die man nach der Vorlesung zur Vertiefung mit nach Hause nehmen könnte. Auch einen Titel gibt es schon lange dafür, in bester Woody-Allen-Manier: „Was Sie schon immer über … wissen wollten“. Aber nie hatte es Zeit dafür gegeben.

Mit Kamera, Stativ, Whiteboard und vielen Stiften

Vielleicht jetzt – hic Corona, hic salta! Noch ein letztes Mal (vermutlich schon illegal) ins Büro gestürmt – viel braucht es ja nicht, Kamera, Stativ, ein Whiteboard, viele Stifte. Und schon am nächsten Tag auf dem Wohnzimmersofa der Beginn der „Dreharbeiten“. Die kühne Idee: komplett asynchron und dennoch interaktiv – ohne genaue Ahnung, wie das gehen könnte. Jedenfalls „beyond the Bits“… der Blick fällt aufs Klavier, schon geöffnet für die Probe mit meiner Frau später am Nachmittag. Eine Intro-Melodie wäre doch nett – es müsste natürlich etwas sein, was jeder kennt (und ich ohne Üben hinkriege). Mozart, a-moll, „alla turca“: daradaradam, daradaradam, daradara-daradaradaradaradam… los geht’s. Am Sonntagabend erscheint das erste Video auf Youtube. Damit ist es natürlich nicht getan, man kann das ja nicht einfach nur veröffentlichen. Erste Mitteilung an die Studierenden: Sorry Leute, bis auf Weiteres weiß ich es nicht besser, aber jedenfalls brauchen wir Kontinuität, deswegen gibt’s das Video nur für 10 Tage online. Ich verspreche aber, dass täglich eines nachkommt – hätte ich nur geahnt, was das für die nächsten zwei Monate bedeuten würde…




Denn es gibt (außer meinem bravourösen Kollegen Andreas, der sich von irgendwo anders her vor allem um die Übungen kümmert) ja kein Team dahinter, gerade mal eine Kamera, kaum Schnitte. Jeder Versprecher ein Malheur, jeder falsche Tafelstrich eine potentielle Katastrophe. Dazu mein Laptop Baujahr 2013, dessen Speicher eh schon seit Monaten an der Grenze der Belastbarkeit ächzt… na ja, wenigstens ist das Internet stabil. Und asynchron wären wir auch schon, jetzt fehlt nur noch die Interaktivität… Neben der Vorlesung gibt es ein begleitendes Repetitorium, Vorrechnen praktischer Beispiele durch die Studierenden, zu normalen Zeiten in kleinen Gruppen, und dadurch Zeit zu detaillierteren Erklärungen. Wie das auf das (immer noch chimärenhaft schillernde) „Konzept“ übertragen? Einziger Ausweg: Jetzt müssen die Studierenden herhalten, ebenfalls Videos drehen! Wieder schweift der Blick umher, fällt auf eine vergessene Tüte Mozartkugeln: ein Wettbewerb! Zum Glück gibt es die Prüfungsordnung neuerdings her, Extra-Punkte für eine Klausur in (sehr beschränktem) Umfang schon vorher erwerben zu können. Dieser Anreiz, verbunden mit der Aussicht auf jede Menge der süßen runden Dinger sollte einen Versuch wert sein…: „TGI@home“ is born.

Von „Boolescher Algebra“ bis „Quantencomputing“

So wird ab sofort jeden Montag ein „Thema der Woche“ ausgegeben: von „Boolescher Algebra“ über „Digitale Logik“ bis „Speicherverwaltung“ und „Rechnerarchitektur“, und als i-Tüpfelchen am Schluss noch ein bisschen „Quantencomputing“. Das heißt aber auch: jeden Tag frühmorgens ein neues Youtube-Video aufs Netz, und jeden Abend um Mitternacht ein anderes wieder herunter, aber wenig Schlaf hatte ich auch vorher schon. Dazu am Wochenende, wenn es sich ausgeht, noch das eine oder andere Bonus-Filmchen (über mechanische Rechenmaschinen etwa, meine große Leidenschaft – das Video dazu gibt’s am Ende des Beitrags). Und dabei immer schön anschaulich bleiben: wir schauen auf die Straße, ob es regnet, wenn’s um Logik geht (denn „schon wenn es regnet ist die Straße nass“ – materiale Implikation), ein Holzrechner aus den 60er Jahren samt mitlaufender Stoppuhr zeigt, wie viel Zeit man mit Parallelisierung spart, und Luftballone platzen, wenn ein Qubit kollabiert. Nur beim Ausflug an den Herd, um den Unterschied zwischen Compiler und Interpreter anhand eines Kochrezepts zu illustrieren, zeigt meine unerschütterlich geduldige Frau (Danke, Marena!) zum ersten Mal Nerven – Gottseidank brennen die Spaghetti nicht an…

Acht Wochen später die Bilanz: 48 Videos, jedes zwischen 10 und 20 Minuten lang, insgesamt fast 15 Stunden Material. 48 Klavierstücke, von Bach („Goldberg-Variationen“) bis Bartok („Aus dem Tagebuch einer Fliege“), von Carlos Gardel bis Chris de Burgh. Dazu sage und schreibe 55 Studierendenvideos, mit teilweise grenzgenialer Umsetzung: Musiker*innen, soweit das Auge reicht, schwere Aufgaben werden in Star Wars-Uniform angegangen, und selbst der Hund leistet (unter dem Decknamen „Prof. Frodo“) ganze Arbeit. Zum krönenden Abschluss gelingt einem Studenten sogar die filmische Verwandlung der beiden Dozenten in Marvel-Superhelden und Freiheitsstatue – diese kreative Energie ist einfach nur bemerkenswert. Und obendrein sind so gut wie alle Aufgaben gelöst (an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten!).




Jetzt fehlt noch die Klausur, StEOP-bedingt im Präsenzmodus. Endlich ein Wiedersehen von Mensch zu Mensch, samt Gelegenheit zur Preisverleihung. Und dann die Frage: Wie soll das weitergehen? Wird sich die Universität als physischer Ort der Wissensvermittlung in einer virtuellen Welt schlichtweg abschaffen, oder finden wir trotz und mit Stream und Zoom einen Weg zurück in die Zukunft? Jedenfalls ist eines klar: Digitale Lehre gibt es. Aber nur, wenn Menschen sie leben. Und zwar so, wie wir Menschen sind: authentisch, vielfältig, gemeinsam.




 


Peter Reichl

Peter Reichl ist Leiter der Forschungsgruppe Cooperative Systems an der Fakultät für Informatik der Universität Wien


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