Forschungsaufenthalt in den bolivianischen Anden – Einblick und Förderung
Im Mai 2024 hatte ich durch Förderungen seitens der Universität Wien das Privileg, einen Forschungsaufenthalt in Bolivien für mein Dissertationsprojekt zu absolvieren, das sich dem Thema der Mobilisierung von Recht durch indigene Akteur*innen im interamerikanischen Menschenrechtssystem in Zeiten der Klimakrise widmet.
Universidad Andina Simón Bolívar: Ausgangspunkt der Forschung
Mein Hauptstandort war die Universidad Andina Simón Bolívar (UASB) in Sucre. Dort bot man mir als Visiting Researcher nicht nur einen eigenen Schreibtisch, sondern brachte mir bei meiner Ankunft – aufgrund meines wohl gehetzt wirkenden Atmens – einen Coca-Tee, der gegen Übelkeit und Kopfschmerzen bei einer Höhe von immerhin ca. 2.800 m ü. M. helfen sollte. Die Universität war ein guter Ausgangspunkt für meine eigene Untersuchung: So war es durchaus einfacher, Zugang zu diversen Ressourcen, wie etwa Universitätsbibliotheken oder der bolivianischen Nationalbibliothek (Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia), zu bekommen. Die einschlägige spanischsprachige Literatur, die ich in Bolivien entdeckte, war in solchem Maße bedeutsam für mich, dass ich durch die vielen Besuche in Buchgeschäften und Bibliotheken mit fast 10 kg mehr Gepäck als bei meiner Hinreise nach Wien zurückkam. Diese Bücher findet ihr nun auch in unserer Universitätsbibliothek.
Kulturelle und historische Vertiefung: Der Cerro Rico in Potosí
Die Bedeutung des Aufenthaltes für meine eigene Forschung und meine Weiterentwicklung als Wissenschaftlerin lässt sich aber nicht nur an meinem Gepäck bemessen. Während meines Aufenthalts in Sucre konnte ich tief in die bolivianische Kultur und Geschichte eintauchen. Ich setzte mich u.a. mit der Geschichte des Cerro Rico („Reicher Berg“) bei Potosí auseinander, der ab 1545 eine zentrale Silberquelle für das spanische Kolonialreich war, jedoch Millionen von indigenen und afrikanischen Zwangsarbeiter*innen das Leben kostete. Indigene Aufstände gegen die spanische Kolonialregierung wurden über Jahrhunderte blutig niedergeschlagen.
Verknüpfung von Kolonialgeschichte, Ressourcennutzung und indigenen Rechten
Die Geschichte des Cerro Rico steht symbolisch für die Ausbeutung und Marginalisierung indigener Völker und sie zeigt, wie eng menschliches Handeln, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Missachtung indigener Rechte miteinander verwoben sind. Dabei stellt sich die Frage, welche Kontinuitäten dieser kolonialen Praktiken in aktuellen sozioökologischen Konflikten erkennbar sind und inwieweit sich Brüche oder neue Ansätze im Umgang mit indigenen Rechten und Ressourcen abzeichnen.
Expert*inneninterviews: Politische Partizipation und die Klimakrise
Daraufhin besuchte ich in La Paz und Santa Cruz de la Sierra die Hauptbüros verschiedener indigener Organisationenwo ich Expert*inneninterviews führte. In meinem semistrukturierten Leitfaden hatte ich Fragen und Stichworte notiert, etwa zu den verfassungsgebenden Prozessen, die 2009 in einer neuen Verfassung mündeten, oder zu „Land Grabbing“ und dem Voranschreiten der sog. frontera agrícola, kurz gesagt des Gebietes, in dem Landwirtschaft und Viehzucht betrieben werden. Ich erfuhr von meinen Gesprächspartner*innen mehr über ihre Wege politischer Partizipation und die Einflüsse der Klimakrise auf ihre Rechte, was ich als unverzichtbar für eine kritische Auseinandersetzung mit meinem Dissertationsprojekt, empfand.Die Gespräche illustrierten sowohl den Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und der Klimakrise als auch die Dimensionen seiner Auswirkungen auf die sog. DESCA (Derechos Económicos, Sociales, Culturales y Ambientales), d.h. der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Rechte.
Zusammenarbeit mit NGOs: Perspektiven und Herausforderungen
Zusätzlich zu den Interviews mit indigenen Organisationen tauschte ich mich mit verschiedenen NGOs aus, die im Kontext von indigenen Rechten und Umweltbelangen arbeiten. Die Diskussionen mit NGO-Vertreter*innen gaben mir zusätzliche Einblicke in einige praktische Herausforderungen und Erfolge ihrer Arbeit.
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Fazit: Praxisorientierte Forschung und persönliche Weiterentwicklung
Insgesamt war mein Forschungsaufenthalt in Bolivien eine tiefgreifende und bereichernde Erfahrung. Ich möchte allen, die zu praxisnahen Themen arbeiten, empfehlen, Angebote wie KWA wahrzunehmen und sich an Konzepte für Forschung „vor Ort“ heranzuwagen. Mit der Ethikkommission der Universität Wien steht eine zusätzliche Möglichkeit offen, ethische Fragen, die sich bei der Durchführung von Forschungsprojekten ergeben, einer interdisziplinären Expert*innengruppe zur Prüfung vorzulegen. Die vielfältigen wunderbaren Begegnungen und die intensive Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen, sozioökologischen und rechtlichen Herausforderungen haben meine Forschung und meine persönliche Entwicklung nachhaltig geprägt. Tupananchikkama!
Cansu Cinar ist Juristin und Doktorandin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Cansu forscht zu Menschenrechten im Kontext der Klimakrise. Ihre Forschungsarbeiten führten sie zuletzt nach Lateinamerika. Ein KWA-Stipendium unterstützte den wissenschaftlichen Aufenthalt finanziell.
ein Beitrag von Cansu Cinar